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Kinder wollen lernen – so viel steht fest. Und auch, dass ihnen Wissen nicht unbedingt eingetrichtert werden muss, haben mittlerweile die meisten verstanden. Babys lernen einfach so krabbeln, sie lernen zu gehen und sprechen ohne, dass sie dafür eine Schule besuchen müssen. Wie schön wäre es, wenn das so weitergehen könnte? Wenn Kinder auch über das Kleinkindalter hinaus so frei und lebendig lernen könnten, wie es war, als sie noch nicht schulpflichtig waren…
Für mich hörte sich die Vorstellung des Freilernens jedenfalls wundervoll an, und zwar schon lange, bevor wir uns dafür entschieden, auf Reisen zu gehen – später sogar auszuwandern. Also träumten wir ihn, den Raum vom freien Lernen; davon, unsere Kinder mitten im Leben zu unterrichten, während sie sich immer dem widmen konnten, was sie gerade besonders interessiert. Denn durch Begeisterung – das wissen moderne Eltern – lernen wir am besten. So weit, so theoretisch.
Aber bevor du jetzt denkst, dass wir Freilernen für einen unerfüllbaren Traum halten und dir dein Vorhaben ausreden wollen: Nein, ganz bestimmt nicht. Wir finden Freilernen immer noch wundervoll und wünschen so vielen Kindern wie möglich, das Leben auf diese Weise begreifen lernen zu dürfen. Worum es mir geht ist der Fakt, dass es nicht allen Familien möglich ist, das so durchzuziehen, wie man es sich einst erträumt hat und wie es von außen manchmal dargestellt wird. Denn so verlockend die Vorstellung des freien, selbstbestimmten Lernens ohne Schule auch ist – mit unter auch, weil sie perfekt zum Digitalen-Nomaden-Lifestyle passt – so schwer kann auch die praktische Umsetzung sein. Dieser Beitrag will dir helfen, vorzufühlen und Anhaltspunkte für dich zu finden, die vielleicht bedacht werden wollen.
Hast du Zeit fürs Freilernen?
Diese Frage klingt zunächst unpassend, denn beim Freilernen geht es ja gerade darum, frei zu sein und nicht an Zeiten gebunden zu sein. Ja, das stimmt. Dennoch lernen Kinder nicht bloß, indem sie „neben uns herleben“. Kinder haben Fragen, suchen nach Antworten, und die liegen nicht immer auf der Straße, im Feld oder hängen vom Baum herunter. Ganz oft brauchen Kinder Menschen, die ihnen Sachverhalte und Abläufe erklären, jemanden, der mit ihnen aufarbeitet, was sie gerade gesehen, gelernt oder beobachtet haben oder einfach jemanden, der ihnen etwas zeigt und beibringt. Natürlich nicht ständig. Aber schon sehr oft. Auch das Draußen-Lernen nimmt Zeit in Anspruch; Zeit, in der du mit deiner Aufmerksamkeit bei den Kids sein musst – verfügbar sein musst als Ansprechpartner. Mal ganz abgesehen von den Dingen, die du ihnen wirklich aktiv beibringen musst, weil es anders nicht geht. Nebenher arbeiten, Haushalt machen, chillen – das klappt vielleicht manchmal, aber es ist für wissbegierige Kinder schon frustrierend, das Dasein der Bezugsperson ständig erbetteln zu müssen. Freilernen fordert also vor allem dich als Begleitperson, die ein solches Lernen überhaupt erst möglich machen und dafür Raum schaffen muss…
Hast du den Raum fürs Freilernen?
Plantschen, schütten, zerquetschen, öffnen, zertreten, tasten, zermatschen, untertauchen, verbuddeln, schwingen, singen, beobachten, zerschneiden, bekleben… die Liste dessen, was Kinder begeistert, ist lang. Was jedenfalls nicht dazugehört, ist es, ständig hinter dir herzulaufen (weil du/ihr irgendwo hinwollt) oder in der Wohnung zu sitzen und „zu spielen“ (weil du/ihr nur schnell was arbeiten müsst). Was ich sagen will: Freilernen braucht Raum. Raum für Experimente, Raum für Unordnung, für Lärm, Dreck, Gestaltung, Aufbau und Zerstörung. Das kann eine kleine Wohnung in der Stadt nicht bieten. Selbst im gepflegten Garten ist dafür oft kein Platz. Die Welt entdecken und vom Leben zu lernen – das geht nur, wenn man auch mitten im Leben sein darf – wenn Raum für Abenteuer geschaffen wird. Auch das ist deine Aufgabe, als Freilerner-Elternteil.
Hast du die finanziellen Mittel?
Wir kennen Unschooler-Familien, die mit sehr wenig Geld auskommen und es auch nicht für nötig halten, Geld fürs Freilernen aufzuwenden. Sie sind überzeugt, dass Kinder lernen, indem sie einfach am Leben der Eltern teilhaben. Vielleicht funktioniert das bei manchen auch. Bei denen, die wir kennengelernt haben, irgendwie nicht. Denn wenn Mama und Papa keine Zeit haben, dem Kind Buchstaben aufzuschreiben und zu erklären; wenn aufgrund von Geldmangel kein Tablet gekauft werden kann; und Lernbücher offiziell zum Feind erklärt wurden – was dann? Zurück bleibt ein Kind, das so gerne Bücher lesen würde, aber dem es niemand beibringt! Und dabei ist egal, welches Alter das Kind hat. Mir geht es nicht darum, ob mein Kind mit sechs oder mit neun Jahren lesen und schreiben kann. Ich will der Wissbegierde meines Kindes gerecht werden. Und wo ist die Selbstbestimmung, wenn mein Kind in Wahrheit gar nicht selbst bestimmen kann, was es lernt, weil ich es ihm nicht ermögliche.
Materialien, Bücher, Eintrittskarten, Ausflüge – wenn das finanziell nicht drin ist, wird’s eng.
Bitte verstehe mich richtig: Du musst nicht reich sein, um Freilernen anzubieten. Aber wenn der Gürtel eng sitzt, ist die Sache mit der Selbstbestimmung der Kinder eben eingeschränkt, weil Geld für vieles nun mal erforderlich ist; und sei es nur für’s Reisen oder weil du in dieser Zeit nicht arbeiten (und nicht Geld verdienen) kannst.
Hast du Lust auf Freilernen?
Vielleicht ahnst du es schon: Freilernen betrifft nicht nur deine Kinder, sondern auch dich/euch als Eltern. Da ist die oben gestellte Frage durchaus berechtigt: Hast du denn überhaupt Lust, das alles auf dich zu nehmen? Denn auch wenn es wünschenswert wäre: es geht eben nicht nur um die Freiheit und Selbstbestimmung deiner Kinder, sondern auch um dich als Individuum. Es geht auch um das, was du dir wünschst, wofür du dir Zeit und Raum nehmen magst und wie du dein Leben gestalten möchtest.
Und wenn du, obwohl du Freilernen – so wie wir auch – total genial findest, spürst, dass dich das zu viel fordern wird, ist es okay, das nicht oder nur eingeschränkt zu tun. Oft sind auch Mischformen möglich, zum Beispiel, indem ihr es stundenweise mit einem Privatlehrer versucht oder freien Schulen, die Kindern mehr Flexibilität und Lernen ohne Druck ermöglichen. Kurz gesagt: Es ist okay, wenn du das nicht auf dich nehmen willst; selbst dann, wenn du denkst, dass es für die Kinder das Beste wäre. Denn praktisch ist es nur dann das Beste, wenn alle es wollen und können. Was uns zum nächsten Punkt bringt:
Wollt ihr das ALLE?
Und mit „alle“ meine ich dich, deinen Partner/deine Partnerin und deine Kinder. Denn wenn ein Elternteil dagegen arbeitet, nicht mitzieht oder ständig Zweifel und Ängste mitschwingen, belastet euch das auf allen Ebenen (ich spreche nicht von temporären Bedenken, sondern wirklich dauerhaften, handfesten Zweifeln und Sorgen). Es kann sich negativ auf eure Paarbeziehung auswirken und Disharmonie im Familienleben erzeugen, wenn sich Eltern in der Begleitung ihrer Kinder ständig uneinig sind.
Und es geht ja nicht nur um Harmonie und Einigkeit, sondern auch um Zeit. Denn wenn nur einer das Freilernen unterstützt, ist das auch die Person, die das Konzept stützt und die Kinder begleitet. Sie hat somit auch weniger Zeit für etwa die Arbeit.
Auch, dass Kinder mitmachen, ist nicht immer gesagt. Wo unser Sohn zwei Wochen lang nur mit Murren zur Schule ging, ist er jetzt gar nicht mehr davon abzuhalten. Als wir dann letztens von Freilernen sprachen, fragte er mich entsetzt, ob das bedeuten würde, dass er dann nicht mehr in die Schule gehen könne. Dabei sprachen wir gar nicht über uns, sondern unsere Freunde.
Warum wir uns gegen Freilernen entschieden haben
Ich will ehrlich sein und gleich zum Punkt kommen: Wir haben – im Moment – nicht die Zeit und das Geld, um Freilernen so zu gestalten, wie wir uns das vorstellen. Und da spreche ich nicht davon, dass wir uns keine Lernmaterialien, Eintrittskarten oder Technik leisten könnten; sondern davon, dass wir uns UNSER Freilernen schlicht anders vorstellen. Aber für Dauerreisen und tägliche Abenteuer haben wir im Moment einfach nicht die Zeit, da wir nach 6 Jahren, in denen wir fast ausschließlich für unsere Kinder da waren, beruflich vorankommen wollen. Und wir haben erkannt, dass das mit unserer Vorstellung von Freilernen nicht zu vereinbaren ist.
Das Schöne daran ist, dass – und so war es bei uns meistens – sobald wir Eltern Klarheit haben, auch unsere Kinder dabei sind. Weil sie spüren, dass ihre Leitwölfe und innen sicher und stabil sind und sie sich drauf verlassen können, dass wir durchdachte, sinnvolle Entscheidungen treffen.
Und so besucht unser 6-Jähriger seit vielen Wochen die öffentliche spanische Schule, die er so toll findet, dass er sie am Wochenende sogar manchmal vermisst. Unser 4-Jährige wird dann im Herbst das erste Mal fremdbetreut und steigt ebenfalls in die spanische Schule ein. Ginge es nach ihm, wäre er jetzt schon dabei (nur leider bekamen wir so schnell keinen Platz).
In diesem Sinne, ich möchte niemandem das Freilernen ausreden und wir finden es nach wie vor eine schöne Idee. Aber eben auch eine, die in der Praxis manchmal (!) schwerer umzusetzen ist, als man sich das vorgestellt hat.